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Artificial Intelligence: Vom Turing-Test über ChatGPT zur Super Intelligence

Alfred Künzle, Swiss Finance Chapter

19.10.2023

Kennen Sie Alan Turing? Sein Knacken der deutschen Chiffriermaschine «Enigma» hat den Zweiten Weltkrieg mitentschieden. Zudem hat er 1950 den sogenannten Turing-Test formuliert: Ein Mensch C führt eine Konversation mit einem anderen Menschen auf der Leitung A und mit einer Maschine auf der Leitung B. Beide versuchen C zu beweisen, dass sie Menschen sind. Wenn die Maschine den Menschen erfolgreich täuschen kann, gilt sie als «intelligent».


Können Sie ChatGPT von einem echten Menschen unterscheiden? Und was wenn nicht? Die Geschichte von Artificial Intelligence kann uns dazu vielleicht einige Einsichten bieten.

Die Geschichte der Artificial Intelligence

Bereits 1951 erfindet Marvin Minsky einen ersten Neurocomputer mit dem Namen «Stochastic Neural Analog Reinforcement Computer» (kurz: SNARC). Der Computer simuliert das Verhalten von Laborratten und findet den schnellsten Weg aus einem Labyrinth. 1956 organisiert er die Dartmouth Conference, mit dem Ziel, dass jeder Aspekt des Lernens oder jedes andere Merkmal der Intelligenz im Prinzip so genau beschrieben werden kann, dass eine Maschine es simulieren kann.


1960 entwickelt der US-Informatiker und Psychologe Frank Rosenblatt mit «Mark I» den ersten lernfähigen Computer. «Mark I» versucht Lösungsmethoden so lange, bis die richtige gefunden ist. Dieses Trial-and-Error-Verfahren ist die Grundlage von neuronalen Netzwerken, wie sie heute für Artificial Intelligence verwendet werden.


Der erste Artificial-Intelligence-Chatbot kam übrigens bereits 1966 auf die Welt und heisst ELIZA. Er versucht, eine psychotherapeutische Person zu simulieren. Die Software von Joseph Weizenbaum hätte allerdings den Turing-Test nicht bestanden. Auf der Webseite https://www.masswerk.at/elizabot/eliza.html können Sie selbst überprüfen, ob sie ELIZA für einen Menschen halten. Trotzdem gilt ELIZA als Grossmutter von Siri und Alexa.


In den 70er und 80er Jahren kam der sogenannte Artificial Intelligence-Winter. Ernüchterung machte sich breit über die Geschwindigkeit der Entwicklung und der technischen Möglichkeiten. Dann schlägt 1997 IBM’s Deep Blue den Schachweltmeister Garri Kasparov. Plötzlich ist Artificial Intelligence wieder in allen Medien weltweit. Die Hardware, die für Deep Blue benötigt wird, ist jedoch nicht verbreitungstauglich.


Erst 2011 bringt Apple mit «Siri» eine Artificial Intelligence unter die breite Masse. Sprachbots wie Alexa, Cortana, Bixby oder Google Assistant beginnen die Art zu verändern, wie wir mit dem Smartphone interagieren. Gleichzeitig spüren wir das Maschinelle hinter diesen Chatbots noch zu deutlich. Sie bestehen den Turing-Test nicht.


Es dauert bis 2022, bis mit ChatGPT eine Artificial Intelligence-Applikation wirklich überzeugt und die Welt in Staunen versetzt. ChatGPT wächst so schnell wie keine andere App zuvor.  Weder die Google-Suche, noch Facebook, Instagram oder Tiktok konnten auch nur annähernd gleiche User Adoption-Zahlen aufweisen. Was ist passiert?

Schwache, starke und super Artificial Intelligence

Bei Artificial Intelligence unterscheidet die Wissenschaft neben vielen anderen Dimensionen zwischen schwacher, starker und super Artificial Intelligence. Enge (schwache) Artificial Intelligence-Systeme können zwar sehr intelligent eine gewisse Aufgabe erfüllen, aber eben nur diese Aufgabe. Deep Blue kann nur Schach spielen, es kann weder Auto fahren noch eine Konversation führen.


Repetitive Tasks sind enger Artificial Intelligence am liebsten. Diese Systeme können nicht eigenständig neue Aufgaben lernen, ihre Artificial Intelligence ist auf einen Zweck beschränkt. Sie dienen uns, unsere menschlichen Aktivitäten zu verbessern. Darum werden enge Systeme nie ohne Menschen auskommen.


Anders verhält es sich mit starken Artificial Intelligence-Systemen. Gemäss Definition können sie breite Aufgaben übernehmen, je nach Kontext zwischen Pflege, Logistik, Konversation wechseln und sich selbständig neues Verhalten beibringen. Der Unterschied von Mensch und Maschine verschwindet, wenn wir nicht mehr erkennen, dass eine Artificial Intelligence eine Emotion nur simuliert. 100% Simulation ist wie Wahrheit - starke Artificial Intelligence Systeme sind die besten Schauspieler:innen der Welt.


Es gibt noch keine starken Artificial Intelligences. Es ist unklar, ob es jemals dazu kommen wird. Und was ist jetzt mit ChatGPT? ChatGPT schreibt Texte wie eine Fünfjährige oder wie Ernest Hemingway, besitzt Muster für Poesie und Kunst. ChatGPT erinnert sich an Fragen aus dem Chatverlauf, simuliert Kontext. Es scheint, als ob menschliches Verständnis, Anpassungsfähigkeit, Kreativität die Konversation begleiten.


Da aber auch ChatGPT nur innerhalb des gelernten Rahmens simulieren kann, gehört es weiterhin zu den engen Artificial Intelligences. Die Simulation funktioniert noch nicht immer: Bei genauerem Hinschauen scheinen die Texte seelenlos, maschinell und eigenartig unzugänglich. Wie beim Zauberer von Oz: alles nur Schall und Rauch?


Nicht ganz: Gefühlt hat ChatGPT in diesem engen Bereich der Konversation einen grossen Schritt Richtung starker Artificial Intelligence getan. In genau dieser Anwendung besteht ChatGPT eben für viele den eingangs erwähnten Turing-Test. Das ist neu, anders, erstaunlich, inspirierend - und gleichzeitig besorgniserregend, Angst einflössend, verwirrend.


Von starker Artificial Intelligence zur Artificial Super Intelligence ist von da aus nur noch ein kleiner Schritt. Super Intelligence übertrifft die menschliche Intelligenz. Alles nur ein Hollywood-Film? Ja, im Moment und bis auf weiteres. Und doch: Raymond Kurzweil hat dazu bereits 2005 sein Buch «The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology» geschrieben. «Technologische Singularität» nennt er den Zeitpunkt, in dem Artificial Intelligence die menschliche Intelligenz übertrifft.


Quelle: https://hislide.io/product/3-type-of-artificial-intelligence-levels/

Wer schreibt die Geschichte der AI weiter?

Artificial Intelligence hat eine erstaunlich lange Geschichte. Schon seit über 70 Jahren gibt es den Begriff und erste Maschinen. In der gleichen Zeit flogen wir auf den Mond, erfanden den Computer und das Internet, trugen ehemals Hallen füllende Rechenzentren in unseren Hosentaschen und experimentierten mit virtuellen Realitäten.


Und gleichzeitig ist es eine sehr kurze Geschichte. Denn erst die heutigen Rechenpower- und Datenspeicherfähigkeiten haben Artificial Intelligence vor etwa zehn Jahren aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Quanten-Computing, eine weitere «Zukunftstechnologie», würde die Spielregeln noch einmal komplett verändern. Wir sind also erst am Anfang der Artificial Intelligence-Geschichtsschreibung.


Auf 2045 hat Raymond Kurzweil den Zeitpunkt der «Technologischen Singularität» geschätzt. Geschichte ist typischerweise sprunghaft, gewisse Ereignisse verändern die Welt eben nicht linear, sondern radikal. «Schwarzer-Schwan-Ereignisse zeichnen sich durch ihre extreme Seltenheit, ihre schweren Auswirkungen und die weit verbreitete Behauptung aus, dass sie im Nachhinein offensichtlich waren», schreibt Nassim Nicholas Taleb, ein ehemaliger Wall-Street-Händler, in seinem Buch «Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse».


Vielleicht kommt der Zeitpunkt der Singularität nie, vielleicht aber kommt er und niemand merkt es, nicht einmal diejenigen, die Super Intelligence erfunden haben. Dafür sagen dann alle danach: «Wir haben es doch schon immer gesagt!»


Apropos Spielregeln: Wir haben es in der Hand, die Geschwindigkeit und Richtung der Entwicklung mitzubestimmen. Wie möchten wir als Menschheit die Geschichte der Artificial Intelligence gestalten? Was ist uns wichtig? Seit 2018 haben über 5’000 Forschende im Rahmen der Future of Life Initiative Regierungen dazu aufgefordert, Regeln für den Umgang mit Artificial Intelligence aufzustellen.


Interessanterweise führt uns die Entwicklung von Artificial Intelligence dorthin, wo wir uns wieder fragen, was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein. Jean-Paul Sartre meinte, dass sich das Menschsein dadurch definiert, dass wir Zeit unseres Lebens frei darin sind, Entscheidungen zu treffen und diese uns als Menschen und unser Leben zu definieren. Schön zu wissen, dass wir die Freiheit haben, die Geschichte von Artificial Intelligence selbst zu schreiben.